4.3.2 Armut
Das Einkommen eröffnet den Menschen den Zugang zu Bedarfs- und Gebrauchsgütern und stellt somit eine wichtige Voraussetzung für die Befriedigung der Grundbedürfnisse dar. Des Weiteren ist das Einkommen eine Grundlage für die Vermögensbildung, den Besitzerwerb und die soziale Absicherung. Einkommensnachteile verringern die Konsummöglichkeiten und bedingen oftmals eine Unterversorgung in anderen Bereichen, wie beispielsweise der Wohnsituation oder der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben (vgl. Häfelinger, Lampert, Saß & Ziese 2005).
Armut wird mit einer von der OECD entwickelten Skala berechnet. Haben Personen ein monatliches Netto-Einkommen von unter 60% des gesamtgesellschaftlichen Durchschnittseinkommens so gelten sie als armutsgefährdet (vgl. Häfelinger, Lampert, Saß & Ziese 2005). In der Europäischen Union waren im Jahr 2016 23,5% der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Bulgarien hatte mit 40,4% der Bevölkerung, die von Armut bedroht war, eine der höchsten Zahlen in der EU. In Griechenland und Rumänien war mehr als ein Drittel der Bevölkerung von Armut bedroht (vgl. Europäische Union/ Eurostat, 2018).
Allerdings weist die Gruppe der von Armut betroffenen Menschen weltweit eine Mobilität auf. Diese Gruppe befindet sich in einem ständigen Wandel, da Menschen jederzeit in Armut eintreten oder über die Armutsschwelle hinaustreten. Dies hängt ebenfalls mit der Entsicherung der Arbeitsverhältnisse zusammen, denn in vielen Berufen sind unbefristete Arbeitsverträge und somit eine Planungssicherheit nicht mehr zu finden. Deshalb ist festzustellen, dass die Gruppe der in Armut lebenden Menschen keine einheitliche, gleiche Masse von Personen ist, sondern eine Ansammlung von vielen Individuen, die sich zur gemessenen Zeit alle unter der genannten Schwelle befinden (vgl. Europäische Kommission, 2013).
Armut ist ein multidimensionales sozio-ökonomisches Phänomen, das zum einen von ökonomischen, sozialen und arbeitsrechtlichen Bedingungen, zum anderen aber auch von individuellen Faktoren, wie der Bildung, dem Gesundheitsstatus oder der sozialen Eingliederung, abhängig ist (vgl. Grundiza & Vilaplana, 2013).
Von Armut betroffene Menschen neigen eher zu riskantem Gesundheitsverhalten, haben meist eine ungesunde Ernährungsweise und Alkoholkonsum, unzureichend körperliche Aktivität oder sehr starke körperliche Belastung sowie einen schlechteren Zugang zum Gesundheitswesen. Dies führt zu einem verstärkten Auftreten von körperlichen Beschwerden und Krankheiten und einer schlechten Einschätzung der eigenen Gesundheit (vgl. Häfelinger et al 2005; Lampert et al 2018).
Die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, vor allem mit der finanziellen Situation, hängt stark von der Bildung der einzelnen Personen ab. Vor allem in Armut lebende Menschen haben Schwierigkeiten die grundlegende Versorgung zu finanzieren. Ihnen fehlen oftmals die Ressourcen, um beispielsweise die Miete oder Heizkosten zu bezahlen, Fleisch oder Fisch alle zwei Tage zu konsumieren oder einen Fernseher beziehungsweise ein Telefon zu finanzieren. Auch unerwartete Ausgaben zur kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe sowie an Bildung, z.B. durch Klassenfahrten, Theaterbesuche oder Anschaffung von Büchern und Lernmaterialien können nicht finanziell aufgebracht und bezahlt werden. Mit der Finanzkrise konnten im Jahr 2013 39,4% der EU-Bürger*innen nach eigenen Einschätzungen nicht für unerwartete Ausgaben zahlen. Diese Einschränkungen im Leben der Personen stellen ein erhebliches Problem dar und haben starke Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit, die Gesundheit und die soziale Teilhabe (vgl. Eurostat, 2015).
Gerade die Wohnsituation ist für viele Menschen mit hohen Ausgaben verbunden. Im Jahr 2012 haben 11% aller europäischen Mitbürger*innen über 40% ihres Einkommens für Mieten und Nebenkosten ausgegeben. Zum Teil sind Menschen mit den Ausgaben überfordert, sodass sie möglicherweise in schlechten Wohnsituationen leben oder in anderen Bereichen Einsparungen vornehmen müssen. Im Jahr 2013 haben 23,5% der von Armut bedrohten Personen in der EU in Unterkünften gelebt, die beispielsweise undichte Dächer, nasse Wände und Decken oder Schimmel vorwiesen, was unter anderem zu Gesundheitsrisiken und einem schlechten Wohlbefinden führt. Ein Zusammenhang zwischen dem Einkommen und der Zufriedenheit mit der Wohnsituation lässt sich ebenfalls feststellen. Vor allem Länder mit einem geringeren durchschnittlichen Einkommen im Vergleich zu den anderen EU-Mitgliedstaaten bestätigten diesen Zusammenhang (vgl. Eurostat, 2015).
Innerhalb der Kategorie Armut muss Klassismus mit betrachtet werden. Hier bedeutet Diskriminierung nicht nur ein Vorurteil, sondern die fünf Formen der Unterdrückung nach Iris M. Young (vgl. Reuscher 2013):
- Ausbeutung ist nicht darin begründet, dass die einen Individuen große Güter oder finanziellen Reichtum und die anderen wenig oder nichts haben, sondern dass die gesellschaftliche Aufgabenteilung einem sozialen Prozess zugrunde liegt, der auf die Verhältnisse von Macht und Ungleichheit hinausläuft.
- Marginalisierung bedeutet, dass Individuen aufgrund von Merkmalen und Fähigkeiten als nützlich und nicht nützlich eingestuft und somit von beispielsweise dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden.
- Gewalt wird nicht als physische oder psychische Gewalt verstanden, sondern der systematische und institutionell geschützte und von der Gesellschaft akzeptierte soziale Charakter. Hier ist beispielsweise Gewalt gegen Mitglieder einer Gruppe gemeint, allein aus dem Grund, weil sie Mitglieder der Gruppe sind.
- Machtlosigkeit bezieht sich auf die gesellschaftliche Ordnung von Arbeit, in der einige Menschen begrenzte Macht über andere Menschen und somit Entscheidungsgewalt haben. Die Machtlosen können ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten schwer oder gar nicht ausbauen und sind somit in ihrer Stellung gefangen.
- Kulturimperialismus, eine Ausgrenzungsstrategie, die sogar die diskriminierten Gruppen selbst dazu bringt, sich als das Andere zu betrachten. Die Erfahrungen und die Kultur der herrschenden Gruppe werden als universell gültig angenommen und zur Norm gemacht.
Das Phänomen des Klassismus wurde auch unter der Verwendung anderer Begriffe diskutiert, wie beispielsweise innerhalb der Klassengesellschaft von Karl Max innerhalb des Kapitalismus. Hier wird eine Klasse einer anderen systematisch bevorteilt (vgl. FES Landesbüro Thüringen 2016). Die Unterdrückung einer Klasse ist nach Young tief verwurzelt und miteinander verwoben. Sie folgt einem gesellschaftlichen Muster von nicht hinterfragten und nicht reflektierten Normen und Werten.
Kinderarmut
In Armut zu leben hat nicht nur negative Auswirkungen auf die Eltern; gerade die Kinder haben oftmals Probleme in der Schule und mit ihrer Gesundheit. Beengtes Wohnen, wenig Geld für gesundes Essen, Bildung, Hobbies oder Urlaub sind nur einige Beispiele der Schwierigkeiten, denen sich Eltern gegenübersehen. Kinder, die in Armut aufwachsen, sind meist von vielen sozialen und kulturellen Aktivitäten ausgeschlossen, die für Gleichaltrige ganz normal sind. Viele Bücher zuhause zu haben, ein Kinobesuch, die Anschaffung eines Computers, einer Waschmaschine oder die Freunde nach Hause zum Essen einladen, ist für viele Kinder unmöglich. Hinzu kommt, dass die Kinder meist schlechtere Chancen in der Schule haben, strukturell von direkten und indirekten Diskriminierungen im Bildungswesen betroffen sind und so die Möglichkeit verringert wird, später ein Leben außerhalb von Armut zu führen (vgl. Menne & Stein, 2017).
Innerhalb der EU waren im Jahr 2017 24,9% der Kinder in der EU von Armut betroffen. Vor allem das Einkommen der Eltern hat einen erheblichen Einfluss auf die finanzielle Situation der Kinder. Doch nicht nur erwerbslose Eltern haben ein erhöhtes Armutsrisiko, auch Haushalte mit wenigen Arbeitsstunden pro Woche zeigten ein erhöhtes Risiko (vgl. Eurostat, 2019). Die Möglichkeiten der Eltern ihr Kind unterstützen zu können und die Bedeutung einer guten Bildung für den weiteren Lebensweg zu vermitteln, hat neben der Bildung der Eltern eine starke Auswirkung auf die Bildung der Kinder. Da die Bildung einer der wichtigsten Voraussetzungen dafür ist, das Armutsrisiko zu senken und finanzielle Stabilität zu erreichen, zielen verschiedene Programme darauf ab, die Bildung der Kinder zu fördern (vgl. Grundiza & Lopez, 2013).
Altersarmut
Doch nicht nur Kinder leiden besonders stark unter dem Armutsrisiko – auch Rentner*innen können von Armut betroffen sein. Im Jahr 2017 haben in der EU 18,2% der über 65-Jährigen in Armut gelebt (vgl. Eurostat, 2019). Fast ein Fünftel der Bevölkerung war im Jahr 2017 65 Jahre und älter. Durch die geringen Geburtenraten und die höhere Lebenserwartung ändert sich die Bevölkerungsstruktur hin zu einem größeren Teil an älteren Personen, der sogenannten Alterspyramide (vgl. Eurostat, 2018). Die ökonomische Situation von Rentner*innen ist durch die bezogenen Renten definiert. Auch private Vermögenswerte und die private Altersvorsorge spielen eine Rolle, diese zu erhöhen ist nach dem Renteneintritt nahezu unmöglich. Die Rente hängt meist von der Höhe des in die jeweilige Versicherung eingezahlten Beitrages ab. Altersarmut resultiert meist aus einem geringen eingezahlten Beitrag und somit einer geringen Rente, wenn Personen beispielsweise über längere Zeit arbeitslos oder in atypischer Beschäftigung angestellt waren.
Auch die Haushaltszusammensetzung spielt eine Rolle, so sind ältere Paare im Vergleich zu Alleinstehenden weniger von Armut betroffen (vgl. Blömer et. al., 2017). Interessant ist die Betrachtung der wahrscheinlich noch zu lebenden Jahre im Alter 65: Frauen haben eine Lebenserwartung im Alter 65 von 21,2 Jahren, Männer von 17,9 Jahren. Vor allem ist hier die Betrachtung von Gesundheit und Zugang zu guter medizinischer Versorgung wichtig, da vor allem im Alter Multimorbiditäten und körperliche Beschwerden zunehmen. Männer und Frauen können ab dem Alter 65 im Durchschnitt noch 9,4 Jahren mit einem guten Gesundheitszustand rechnen, sodass circa 12 Jahre mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und je nach Versicherungssystem mit zusätzlichen Ausgaben zu rechnen ist, die oft von Familienangehörigen zu tragen sind (vgl. Eurostat, 2015).
Auch hier sind Personen in den sozial benachteiligten Gruppen stärker von gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Beschwerden betroffen als die vergleichsweise bessergestellte Personengruppe. Vor allem Frauen ab 65 Jahren sind zu 16,7% immer oder oft wegen der gesundheitlichen Belastungen in ihren Sozialkontakten eingeschränkt, die Männer wiesen keine Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen auf (vgl. Hoebel; Kuntz; Kroll; Lampert & Müters, 2017). Auf die Frage, ob sich Personen ab 65 in den letzten vier Wochen voller Leben ruhig und gelassen sowie glücklich gefühlt hatten, hat ein Großteil der Personen mit einem niedrigen Sozialstatus mit nein beantwortet und ihr Wohlbefinden schlechter bewertet als höhere Sozialgruppen (vgl. Hoebel; Kuntz; Kroll; Lampert & Müters, 2017).
Schwierigkeiten im Alter
Neben den Schwierigkeiten und Problemen, die sich aus der Armut ergeben, sehen sich viele Rentner*innen mit den Einschränkungen in der Gesundheit und ihrer mentalen Leistungsfähigkeit konfrontiert. Viele benötigen im Alter Hilfe bei täglichen Aufgaben, der Körperpflege und der Lebensgestaltung. Vor allem die ältere Bevölkerung hat einen großen Stellenwert und Einfluss auf die Gesellschaft, ob in der eigenen Familie oder dem sozialen Umfeld (vgl. WHO, 2015). Doch gerade die gesundheitlichen Probleme schränken die soziale Teilhabe und die Mobilität der Menschen massiv ein, sodass sie ein höheres Risiko haben, in Isolation zu leben. Vor allem die soziale Teilhabe fördert das Wohlbefinden der Menschen, ist eine Motivation das Haus zu verlassen und somit in Bewegung zu sein und zu bleiben (vgl. WHO, 2015). Ältere Menschen benötigen die folgenden Möglichkeiten und Fähigkeiten, um das Wohlbefinden und die Teilhabe im Alter zu steigern:
- die grundlegenden Bedürfnisse befriedigen
- lernen, wachsen und Entscheidungen treffen
- mobil sein
- Beziehungen aufbauen und erhalten
- etwas zur Gesellschaft, zur Familie oder zum Freundes- und Bekanntenkreis beitragen
Diese Fähigkeiten zu erhalten und zu fördern ist wichtig, damit die älteren Menschen befähigt sind die Tätigkeiten ausführen, die ihnen etwas bedeuten. Die Befriedigung von grundlegenden Bedürfnissen sind persönliche und finanzielle Sicherheit sowie eine adäquate Unterbringung. Auch Rentner*innen wollen im Alter an sich wachsen, sodass sie ihr Wissen erweitern und am Fortschritt, beispielsweise im Bereich Technologie, teilhaben können. Sie möchten weiterhin als Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden und sich beteiligen. Nur so können sie ihre Identität, ihren Lebenssinn und das Interesse am Leben erhalten (vgl. WHO, 2015).
Die Mobilität erhalten, ob durch den eigenen Körper oder mit Unterstützung von Hilfsmitteln, ermöglicht zum einen die Bewegung im eigenen Wohnumfeld aber auch den Zugang zu Läden, Dienstleistungen und den sozialen und kulturellen Angeboten. Auch beeinflusst werden die persönlichen Beziehungen, ob zur Familie oder zu Freund*innen. Gerade die Beziehungen wirken sich auf das gesamte Leben aus, sie wirken als Ressource und haben positive Effekte auf das Wohlbefinden, die Gesundheit und den Lebenssinn von Personen (vgl. WHO, 2015).
Das Fehlen von persönlichen Beziehungen und Kontakten resultiert in Einsamkeit bis zur Isolation, einem schlechteren Gesundheitszustand und einem risikoreicheren Verhalten (vgl. WHO, 2015). Neben den Beziehungen ist das Gefühl der Teilhabe ein wichtiger Einflussfaktor. Arbeit, hier sehr breit gefasst und nicht immer im traditionellen Muster der bezahlten Arbeit verstanden, gibt den Menschen ein Gefühl der Erfüllung und fördert ihre Gesundheit sowie die kognitiven und sozialen Fähigkeiten (vgl. WHO, 2015).
Stereotype zu älteren Personen sagen meist, dass sie vergesslich und nicht mehr in der Lage zu lernen oder zu entscheiden sind. Dass diese Aussagen nicht auf die große und diverse Gruppe von älteren Personen zutreffen, schützt sie dennoch nicht vor Diskriminierung. Gerade im Zeitalter des demographischen Wandels sehen sich die Länder vor vielen Herausforderungen – die erwarteten steigenden Kosten im Gesundheits- und Sozialsystem sind nur ein Beispiel. Dennoch können gezielte Maßnahmen zu den oben genannten Punkten das Wohlbefinden und die Gesundheit positiv beeinflussen und somit das Leben für die ältere Bevölkerung verbessern (vgl. WHO, 2015).